Sollen Kranken­versicherungen Reserven abbauen?

Schweizer Krankenversicherer sind gesetzlich dazu verpflichtet, Reserven in der Grundversicherung anzulegen, damit sie auch bei einem Jahrhundertereignis zahlungsfähig bleiben. Die Höhe der Reserven wird mit der Solvenzquote festgelegt: Gegenwärtig müssen die Versicherer in jedem Fall über Reserven verfügen, die mindestens 100 Prozent der in der Verordnung vorgeschriebenen Mindesthöhe betragen. Die Revision der Kranken­versicherungs­aufsichts­verordnung sieht für die Krankenversicherungen nun einen freiwilligen Abbau der Reserven vor. Die Grenze, ab der ein freiwilliger Abbau möglich ist, wird auf das Mindestniveau von 100 Prozent gesenkt. Konkret heisst das: Ein Krankenversicherer muss im Minimum nur noch ein Jahr zahlungsfähig bleiben, auch wenn in diesem Jahr ein Jahrhundertereignis eintritt. Mit der Senkung der Solvenzquote sollen die Versicherungen Reserven abbauen und das Geld den Versicherten zugute kommen lassen.

Meinung

«Eine Solvenzquote von wenigstens 150 Prozent ist zur Abfederung der Risiken wirklich notwendig. Wir können froh sein, dass das Jahr 2020 sowohl kostenseitig wie auch von Seiten der Kapitalmärkte relativ glimpflich verlaufen ist. Der Ausblick auf 2021 ist aber extrem unsicher, daher benötigen die Versicherer diese Reserven. Eine Solvenzquote von mindestens 150 Prozent wäre dabei nicht nur im Einklang mit anderen Versicherungszweigen wichtig, sondern auch mit dem, was wir im Ausland bei Krankenversicherern sehen. Ich würde mich mit weniger als 150 Prozent unwohl fühlen. Stellen Sie sich vor, alle Versicherer hätten nur 100 Prozent und es folgt ein schlechtes Jahr. Dann müssen wir ja davon ausgehen, dass ein grosser Teil der Branche die aufsichtsrechtlichen Mindestanforderungen von 100 Prozent nicht mehr erfüllen kann. Schon dieses Beispiel alleine zeigt, dass eine Absenkung wirklich eine seltsame Idee ist.»

Prof. Dr. Martin Eling
Leiter des Instituts für Versicherungswirtschaft an der Hochschule St. Gallen