Wenn Nichtwissen zum Vorteil wird
Kaum etwas ist so gewiss wie die Tatsache, dass alle Lebewesen eines Tages sterben werden. Interessant dabei: Auch wenn präzise Prognosen zum Todeszeitpunkt gemacht werden können, verzichten Betroffene oft auf die Information – man spricht von gewolltem Nichtwissen. Konstantin Offer, Doktorand am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, erklärt, was es damit auf sich hat.
«Gewolltes Nichtwissen» ist die bewusste Entscheidung, auf gewisse Informationen zu verzichten respektive diese zu ignorieren. Dieses Phänomen lässt sich sowohl in Alltagssituationen als auch bei grossen Lebensentscheidungen beobachten. Nicht selten betreffen diese Informationen die psychische Gesundheit.
Vorhersehbare Konsequenzen abwägen
Es gibt verschiedene Gründe für gewolltes Nichtwissen: Etwa die Angst vor Konsequenzen oder die Überzeugung, dass man ohne bestimmte Informationen unbeschwerter leben kann. «Dabei handelt es sich um Massnahmen zur Emotionsregulierung», erklärt Konstantin Offer, der am renommierten Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin doktoriert. Im Zentrum stehe die Frage, ob man das Wissen über bestimmte Information bereuen würde. Ein schwerwiegendes Beispiel wäre, dass man den eigenen Todestag nicht wissen möchte. In diesem Fall überwiegt der emotionale Schutz dem Wissen. In der Regel lebt man besser, wenn man nicht weiss, wann es zu Ende geht.
Gewolltes Nichtwissen muss jedoch nicht zwangsläufig die Angst vor gewissen Informationen bedeuten. Das Ungewisse hat auch anderweitig seinen Reiz. «Dass wir beispielsweise nicht direkt die letzten Seiten eines Buchs lesen, liegt vor allem daran, dass wir die Spannung aufrechterhalten möchten», sagt Offer. Gewolltes Nichtwissen ist dann am nützlichsten, wenn die Vorteile des Nichtwissens die Nachteile des Wissens überwiegen. Ganz so einfach sei das aber nicht, erklärt Offer: «Um gewollt nichtwissend zu sein, muss man wissen, welche Informationen bestehen können.» Selektion lautet das Credo.
Bildungsforschung am Max-Planck-Institut
Am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin dreht sich alles um die menschliche Entwicklung und um Bildungsprozesse sowie um die Mensch-Maschine-Interaktion. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen – darunter Psychologie, Erziehungswissenschaften, Soziologie und Medizin, aber auch Geschichte, Ökonomie, Informatik und Mathematik – arbeiten in interdisziplinären Projekten zusammen, darunter auch zu gewolltem Nichtwissen.
Von Aristoteles bis heute
Aus der Menschheitsgeschichte geht hervor, dass Menschen schon immer wissbegierig waren. Bereits Aristoteles sagte zu seiner Zeit: «Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.» Doch in den letzten Jahrzehnten hat die Wissenschaft vermehrt Evidenz dafür gefunden, dass Menschen manchmal genau das Gegenteil davon tun. Dieser Prozess dürfte durch das Internetzeitalter und die damit einhergehende Informationsflut beschleunigt worden sein. Wissen ist mittlerweile immer und überall verfügbar. Gewolltes Nichtwissen kann dabei helfen, zielgerichteter durch die Informationsflut zu navigieren.
«Um gewollt nichtwissend zu sein, muss man wissen, welche Informationen bestehen können.»Konstantin Offer, Doktorand am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Ethische Dilemmas
Einige Menschen entscheiden sich dafür, sich regelmässig über die Welt oder ein bestimmtes Thema zu informieren, während andere nicht einmal mehr die Nachrichten verfolgen. Der gewollte Entscheid, sich gar nicht oder nur noch punktuell zu informieren, kann dabei helfen, ein unbeschwerteres Leben zu führen. Das kann aber auch zu Problemen führen: Halbwissen kann in Desinformation übergehen. Dabei werden selektiv nur diejenigen Informationen wahrgenommen, die der eigenen Ideologie entsprechen. Gefährlich wird es dann, wenn der Informationsaustausch nicht über eben diese ideologischen Grenzen hinweg stattfindet.
Auch dem Schutz des sozialen Umfelds hilft gewolltes Nichtwissen. Ein eindrückliches Beispiel dafür liefert das Max-Planck-Institut in einer gemeinsamen Studie mit der Technischen Universität Dresden gleich selbst: Ein Grossteil der ehemaligen DDR-Bevölkerung verzichtete bewusst auf den Einblick in die nach dem Mauerfall offengelegten Stasi-Akten. Für viele Teilnehmende war die Aufrechterhaltung ihrer sozialen Beziehungen wichtiger als die Einsicht in die allenfalls belastende Vergangenheit.
So lässt sich gewolltes Nichtwissen umsetzen
Wie lässt sich gewolltes Nichtwissen im Alltag umsetzen? Wer die heutige Informationsflut – beispielsweise über die sozialen Medien – eingrenzen möchte, kann es mit «Self-Nudging» versuchen. Dabei wird die eigene Umgebung so verändert, dass gewünschte Entscheidungen leichter fallen und mehr Selbstkontrolle ermöglicht wird. Wenn man die Informationsflut als schädlich empfindet, kann man beispielsweise die Benachrichtigung gewisser Social-Media-Apps ausschalten.