Birgit Schmid, Verantwortliche Fachbereich Psychologie bei santé24, im Interview
«Ich habe so viel gelernt für mein eigenes Leben»
Birgit Schmid ist Verantwortliche Fachbereich Psychologie bei santé24. Im Interview erzählt sie, welche Vorteile sie bei der medizinischen Beratung per Telefon sieht, wie künstliche Intelligenz in der Therapie helfen könnte und worin für sie der Sinn des Lebens besteht.
Frau Schmid, wollen sich Psychologinnen und Psychologen eigentlich nur selbst therapieren?
Damit man Menschen mit psychischen Beschwerden verstehen kann, braucht es sicherlich eine gewisse Betroffenheit. So haben wahrscheinlich viele Psychologinnen und Psychologen etwas schwierigere Erfahrungen im Leben gemacht und sind dem Thema Psychologie dadurch nah. Ich kann allerdings nicht unterschreiben, dass sich Psychologinnen und Psychologen diesen Beruf aussuchen, um sich selbst zu therapieren. Mit Psychologie möchte man allem voran Menschen dabei unterstützen, eine bessere Lebensqualität zu erreichen.
Weshalb scheuen sich manche Menschen vor einer Psychotherapie?
Psychotherapie ist nach wie vor etwas stigmatisiert. Psychische Probleme werden immer noch mit Schwäche verbunden, auch wenn das überhaupt nicht so ist. Manche Menschen, die zum Beispiel Traumatisierungen erlebt haben, empfinde ich als sehr stark. Sie haben überlebt und gehen ihren Weg trotz psychischer Probleme weiter. Bis vor kurzem war zudem der Zugang zur Psychotherapie komplizierter. Ein weiterer Grund für die Scheu könnte der bis vor kurzem noch umständliche Zugang zur Psychotherapie gewesen sein.
Welche Probleme treffen Sie heutzutage am häufigsten an?
Viele Probleme drehen sich um beruflichen Stress, Konflikte mit Mitarbeitenden und Vorgesetzten. Ich treffe häufig auch auf Menschen in schwierigen Lebenssituationen, mit herausfordernden Kindern oder in einer Beziehung, die in der Sackgasse steckt. Überdies kommen Klientinnen und Klienten wegen Unfällen, sexuellen Übergriffen und ausgeprägtem Mobbing in die Therapie. Ebenso begegnen mir Menschen, die durch psychische Beeinträchtigungen wie die Aufmerksamkeits-Defizit-Störung (ADS) oder Autismusspektrumsstörungen nur eingeschränkt am sozialen Leben teilnehmen können.
Würden bei psychischen Problemen nicht einfach Medikamente reichen?
Bei schweren Depressionen oder Angststörungen, starken Psychosen und ADS braucht es sicherlich auch Medikamente. Bei leichteren Formen dieser Störungen ist die Psychotherapie für mich aber der Goldstandard. Meine Erfahrung zeigt, dass sich beispielsweise bei der Einnahme von Antidepressiva zunächst die Symptomatik verbessert. Nach einiger Zeit erkennen Klientinnen und Klienten häufig, dass sie auch selbst etwas an ihrem Leben ändern müssen. Dann holt sie das Tief wieder ein, bis sie es wirklich anpacken.
In einer Therapie öffnen sich die Menschen und lassen Sie mitunter an schweren Erfahrungen teilhaben. Wie behalten Sie da Distanz?
Zum einen hilft mir meine langjährige Berufserfahrung: Ich weiss, dass es mir nicht gut tut, Sachen aus der Therapie mitzunehmen oder es zu Hause anonymisiert zu erzählen. Wenn eine schwierige Sitzung vorbei ist, achte ich darauf, sie mental gut abzuschliessen. Ich habe mein Gehirn quasi so trainiert, dass es weiss: «Das Telefon ist aufgelegt, die Situation ist vorbei.» Wichtig ist auch, dass ich gut auf mich Acht gebe.
Psychische Probleme werden immer noch mit Schwäche verbunden, auch wenn das überhaupt nicht so ist. Birgit Schmid, Verantwortliche Fachbereich Psychologie bei santé24
Wie geben Sie auf sich Acht?
Ich gebe mir genügend Zeit zur Entspannung und respektiere meine Grenzen. Es sind zudem einfache Dinge wie gut essen, Sport treiben oder genügend Zeit an der frischen Luft verbringen, die mir einen Ausgleich zum Beruf verschaffen. In der Supervision können wir zudem Fälle unter Schweigepflicht mit jemandem besprechen. Das hilft mir, bei Unsicherheit zu verstehen, weshalb gewisse Menschen in der Therapie mir gegenüber so reagieren, wie sie reagieren. Zudem mag ich Leute, die mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben, einfach: Ich habe so viel gelernt für mein eigenes Leben – wie man es machen kann oder wie man es eben nicht machen sollte.
Wie arbeiten Sie als Psychotherapeutin auf Distanz?
Es fehlt zwar der optische Eindruck der Hilfesuchenden, doch ich habe sie durch das Telefon auf meinen Ohren. Das ist für mich manchmal näher, als wenn mir jemand gegenübersitzt: Man hört so viel, das Atmen, wenn jemand mitschreibt und anderes. Am Telefon spielen Äusserlichkeiten keine Rolle und ich kann mich so vollumfänglich auf die Themen des Hilfesuchenden konzentrieren. Die Therapie auf Distanz ermöglicht Klientinnen und Klienten auch ein schnelleres Einstellen auf ihre Themen, weil sie nicht zuerst in einem fremden Raum ankommen müssen.
Wird künstliche Intelligenz Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten jemals ersetzen können?
Es wird immer Menschen in der Therapie brauchen. Ein Chatbot kann diese ganz individuelle, therapeutische Beziehung nicht gestalten. Zwischen den Zeilen lesen, auf jemanden eingehen – dieses Mitschwingen mit jemandem – das ist für künstliche Intelligenz kaum möglich. Sie könnte aber bei gewissen Diagnosen hilfreich sein.
Wie würden Sie den Sinn des Lebens definieren?
Mir macht mein Beruf sehr viel Spass, ich könnte ihn noch lange ausführen. Ich mache etwas Sinnvolles und Sinngebendes. Für mich liegt der Sinn des Lebens auch darin, es so zu akzeptieren, wie es ist und es zu geniessen.