Silke Schmitt Oggier, Chefärztin Telemedizin von santé24, im Interview
«Die Menschen sind mobiler, digitaler und virtuelle Begegnungen werden selbstverständlicher»
Silke Schmitt Oggier kann als Chefärztin von santé24 auf neun intensive Jahre zurückschauen, in denen sich in der Telemedizin einiges bewegt hat. Was sie im Nachhinein anders machen würde oder noch verändern möchte, verrät sie im Interview.
Frau Schmitt Oggier, welche Frage wurde Ihnen noch nie gestellt bzw. welche Frage würden Sie gerne einmal beantworten?
Letzthin hat mich jemand gefragt, wie ich von der Kinderarztpraxis zur Telemedizin gelangt und Chefärztin von santé24 geworden bin. Ich habe nach dem Studium an verschiedenen Unispitälern klinisch gearbeitet, Grundlagenforschung betrieben – so kam ich übrigens ans Kinderspital in Zürich – und Patientinnen und Patienten in einer Kinderarztpraxis auf dem Land betreut. Wissbegierig wie ich war wurde mir schnell klar, dass ich mehr im Gesundheitssystem bewegen wollte; beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringer und Versicherer stärken. In Deutschland haben damals erste Versicherer mit Patientenbegleitprogrammen gestartet, was ich sehr zukunftsträchtig fand. So bin ich dann mit SWICA und dem damals noch kleinen Telemedizin-Unternehmen santé24 in Berührung gekommen. Die Faszination für die Telemedizin und die Möglichkeiten, die sich innerhalb der SWICA-Gruppe ergeben, haben mich seither nicht mehr losgelassen.
Wenn Sie auf Ihre Anfänge als Kinderärztin zurückblicken; wie hat sich das Gesundheitswesen und Ihr Job verändert?
Heute sind die Menschen mobiler, digitaler und virtuelle Räume und Begegnungen werden selbstverständlicher. Natürlich braucht es trotzdem eine persönlich-menschliche Beziehung im Kontakt mit Patientinnen und Patienten. Die Corona-Pandemie hat uns aber gezeigt, dass nicht alles vor Ort geschehen muss. Eine Beziehung kann auch in einem Telefongespräch entstehen, man muss sich nicht unbedingt sehen oder anfassen. Dass eine gewisse Anonymität auch Vorteile bringen kann, wurde mir von unserem psychologisch-psychiatrischen Team bestätigt. So seien zwei bis drei Sitzungen weniger nötig, um an heikle Themen heranzukommen, da der Kontakt vorurteilsfreier und in einem geschützteren Rahmen stattfinde.
Was würden Sie mit dem Wissen von heute anders machen?
Ich habe gelernt, dass es wichtig ist, bei jedem neuen Angebot die Patientinnen und Patienten miteinzubeziehen und ihnen auch die Zeit zu lassen, sich damit anzufreunden. Unser aktuelles Pilotprojekt Home Tele Care bestätigt dies in Zürich: Einigen Patientinnen und Patienten ist der Gang in die Permanence oder den Notfall heute noch lieber oder weniger suspekt, als in den eigenen vier Wänden von einer speziell ausgebildeten Pflegefachperson besucht, untersucht und behandelt zu werden. Und das, obwohl diese dabei in ständiger digitaler Verbindung mit unseren telemedizinisch tätigen Ärztinnen und Ärzten steht. Bis so innovative Ideen Fuss fassen und die Patientinnen und Patienten den Vorteil erkennen, braucht es einen langen Atem oder Anpassungen, bis die Zeit dafür reif ist.
Mit welchen Vorurteilen hat die Telemedizin immer noch zu kämpfen?
Am Anfang haben die Patientinnen und Patienten vor allem die Triage am Telefon geschätzt; das Abwägen, ob jemand in den Notfall muss oder nicht. Oder eine ausführliche Erklärung, wenn sie ihre Laborwerte erhalten oder die Diagnose vom Hausarzt nicht verstanden hatten. Das ist heute noch so. Dennoch ist es nicht für alle Anrufenden einfachnachvollziehbar, dass am anderen Ende Fachleute und Ärztinnen und Ärzte nicht nur Auskunft geben und beraten. Sie können auch Diagnosen stellen und Therapien einleiten, ohne dass sie einem im weissen Kittel gegenübersitzen müssen.
Wie herausfordernd ist es, Beratungen am Telefon zu führen?
Es hat uns viel Zeit gekostet, Prozesse aufzusetzen und die Professionalität und Qualität anzubieten, die wir heute bei santé24 haben. Für diesen Job habe ich enorm von meiner Erfahrung in der Pädiatrie profitiert. Denn bei Kindern überlegt man es sich zweimal, ob eine Blutentnahme, eine Röntgenaufnahme oder eine andere invasive Untersuchung notwendig ist, um eine Diagnose stellen zu können. Deshalb hatte ich als Kinderärztin sehr selten alle Untersuchungsbefunde vorliegen. Dieser Umstand hat es mir einfacher gemacht, mir zu überlegen, welche Informationen wir in der Telemedizin wirklich brauchen, um uns auch aus der Ferne ein klares Bild machen und eine solide Diagnose stellen zu können.
Viele Berufskolleginnen und -kollegen möchten aktiv an der Zukunft der medizinischen Versorgung mitarbeiten. Silke Schmitt Oggier, Chefärztin Telemedizin von santé24
Für skandinavische Länder wie Schweden oder Norwegen gehört die Telemedizin – und mit ihr Geräte wie TytoHome – zum Alltag. Wieso tun wir uns in der Schweiz damit schwerer?
Es gibt bei allen telemedizinischen Geräten einige Schnittstellen, die beim Anwenden berücksichtigt werden müssen. Dabei fängt es bei simplen Sachen an, wie den Akku zu laden, im Krankheitsfall daran zu denken, das Gerät oder die App, wie beispielsweise den BENECURA Symptom-Check oder TytoHome, zu nutzen oder die Daten zu erheben und zu übermitteln. Dennoch hat es sprichwörtlich jede und jeder selbst in der Hand, Einfluss zu nehmen auf den eigenen Patientenpfad, und sich diesen mithilfe der modernen Möglichkeiten so einfach und angenehm wie möglich zu gestalten. Dies gilt übrigens nicht nur für akute Situationen, sondern auch für Prävention, Gesundheitsförderung und Begleitung chronisch Kranker im Bereich Bewegung, Ernährung und psychisches Wohlbefinden. Auch hier entwickeln wir Angebote, um es Patientinnen und Patienten einfacher zu machen, sich Unterstützung zu holen.
Weshalb entscheidet sich eine Ärztin oder ein Arzt für die Telemedizin?
Viele Kolleginnen und Kollegen treibt die Neugierde zur Telemedizin. Sie haben genug von der Hierarchie in einem Spital, den vielen administrativen Arbeiten oder Überstunden. Sie möchten aktiv an der Zukunft der medizinischen Versorgung mitarbeiten, ihr Wissen nutzen und sich ihre Arbeitszeit besser einteilen. Den jüngeren Kolleginnen und Kollegen ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder Privatleben wichtig. Deshalb sind Teilzeitstellen und Planbarkeit der Arbeitsstunden wichtige Erfolgsfaktoren.
Wie herausfordernd ist es, Menschen online zu führen?
In der Führung von Mitarbeitenden, die in der Telemedizin arbeiten, braucht es ein Maximum an Qualität und ein definiertes Minimum an persönlichen Treffen. Mir ist es wichtig, immer erreichbar und offen für Neues, aber auch Kritisches zu sein. Ich übertrage gerne Verantwortung, um den Mitarbeitenden Raum für Ideen zu geben, damit sie in einem vorgegebenen Rahmen selbst mehr mitbestimmen und so sich selbst und ihr Arbeitsumfeld proaktiv weiterentwickeln können.
Was soll sich im Gesundheitswesen verändern?
Es scheint mir wichtig, die Ressourcen der vorhandenen ärztlichen und nicht-ärztlichen Fachkräfte besser aufzuteilen und die Kernkompetenzen der verschiedenen Leistungserbringer optimal zu nutzen. Die Möglichkeiten reichen von der Apotheke über die Spitex, Hausarztpraxen, Permanencen, verschiedene Therapeuten, Spezialärzte bis hin zu den Notfallzentren und den Universitätsspitälern mit hochspezialisierter Medizin. Wir müssen den Patientinnen und Patienten helfen zu verstehen, dass es mehrere Möglichkeiten bzw. «multiple entries» gibt. Wichtig ist, dass sie zumindest bei den nicht akut lebensbedrohlichen Erkrankungen mitentscheiden können, wie, wo und wer sie behandeln und bei chronischen Krankheiten auch begleiten soll. Beispielsweise, ob das in der Praxis, via Telemedizin rein digital, digital-hybrid oder in einer Mischung der verschiedenen Möglichkeiten geschehen soll, wobei der Austausch der involvierten Fachkräfte auch digital noch verbessert werden muss.
11.04.2023