Virale Erreger
«Für Kinder mit Vorerkrankungen kann jedes Virus gefährlich sein»

Covid, Grippe, RSV – wegen viraler Erkrankungen liegen derzeit auch viele kleine Patientinnen und Patienten im Bett. Warum die Erreger bei Kindern leichtes Spiel haben und wie man den Nachwuchs schützen kann, weiss Silke Schmitt Oggier, Kinderärztin und santé24-Chefärztin.

Frau Schmitt Oggier, gewisse Stimmen behaupten, aufgrund der Corona-Schutzmassnahmen wie dem Maskentragen sei das Immunsystem vieler Menschen schlecht «trainiert» worden und anfälliger für neue Infektionen. Lässt sich das Immunsystem überhaupt «trainieren»?

Ja, absolut, das zeigen alle regulären Impfungen, die eine grosse Erfolgsgeschichte der modernen Medizin sind. Allerdings kann man nicht gegen alle Viren gleich erfolgreich impfen und nur gegen wenige Bakterien. Bei Kindern merkt man das Phänomen des Trainings sehr gut: Kleine Kinder sind, sobald sie mehr Kontakte mit anderen Kindern haben, in den ersten Monaten häufig krank. Nach dieser ersten Zeit sind sie aber in der Regel gestärkt und werden weniger oft und auch weniger schwer krank, weil sich das Immunsystem schon mit vielen Erregern auseinandergesetzt hat, diese bei einer erneuten Infektion wiedererkennt und schneller eliminieren kann. Dann sind die Symptome der Ansteckung weniger heftig und dauern weniger lange.

Kann sich das Immunsystem nur dann erfolgreich gegen einen Erreger wehren, wenn es mit diesem schon in Kontakt gekommen ist? Es heisst doch, dass die Kinder weniger krank seien, die von klein auf Dreck essen...

Das Immunsystem kann sich schneller gegen einen Erreger wehren, wenn es ihn schon kennt und wiedererkennt. Kinder, die schon früh mit verschiedensten Allergenen in Berührung kommen, haben auf jeden Fall später weniger Allergien. Ausserdem ist unser Darmtrakt tatsächlich auch eine wichtige Kontaktfläche mit der Aussenwelt und möglichen Krankheitserregern. Momentan geht man der Frage nach, ob der frühere Kontakt mit Würmern, den fast alle Kinder hatten, gut für das Immunsystem war. Klar ist, dass Aufwachsen in steriler Umgebung dem Immunsystem nicht guttut und eher Allergien erzeugt. 

Unter den Kindern wütete in den letzten Wochen eine heftige Welle mit dem Atemwegsvirus Respiratorisches-Synzytial-Virus (RSV). Stimmt es, dass dieses Virus in einem Zwei-Jahres-Rhythmus zuschlägt?

Warum die RSV-Infektionen jedes zweite Jahr verstärkt auftreten, ist unklar, es ist einfach eine Mehrfachbeobachtung. In diesem Winter haben die Kinder nicht nur mit einer anscheinend besonders starken RSV-Welle zu kämpfen, sondern es grassiert auch die echte Grippe (Influenza). Sie ruft hohes Fieber und Atemwegssymptome hervor und dauert ungefähr eine Woche. Ausserdem ist anscheinend ein besonders aggressiv erscheinendes Bakterium im Umlauf, das starke Halsschmerzen, Lymphknotenschwellungen am Hals, Schluckbeschwerden, Fieber und manchmal Scharlach, also zusätzliche Hauterscheinungen verursacht. Dieses Bakterium versucht man seit kürzerem ohne Antibiotika zu behandeln, weil diese nur sehr wenig zusätzlichen Gewinn bringen gegenüber Schmerz- und Entzündungsmitteln. Helfen sie allerdings nach 48 Stunden nicht oder werden die Symptome trotz konsequenter Medikation schlimmer, sind dennoch Antibiotika angebracht.

RSV ist vor allem für Säuglinge gefährlich, weil ihre Atemwege noch zu klein sind, um trotz der Entzündung genügend Sauerstoff aufzunehmen. Silke Schmitt Oggier, Kinderärztin und Chefärztin santé24

Was ist für Kinder gefährlicher: Covid, RSV oder Influenza?

Für Kinder mit schweren chronischen Vorerkrankungen kann jedes dieser Viren gefährlich sein. Deshalb rät man auch, solche Kinder impfen zu lassen. Gegen RSV gibt es noch keinen in der Schweiz zugelassenen Impfstoff. RSV ist vor allem für Säuglinge gefährlich, weil ihre Atemwege noch zu klein sind, um trotz der Entzündung genügend Sauerstoff aufzunehmen. Influenza alleine ist in der Regel nicht lebensgefährlich, sie kann aber der Nährboden für eine zusätzliche schwere bakterielle Infektion bilden, die dann gefährlich wird, wenn man sie nicht früh genug entdeckt. Bei Covid wissen wir noch nicht genau, welche Kinder gefährdet sind. Es sind sicher weniger Fälle als bei den Erwachsenen. 

Was können besorgte Eltern unternehmen, um ihre (kleinen) Kinder zu schützen?

Den besten Schutz gegen schwerwiegende Erkrankungen bieten die regulären Impfungen. Neugeborene sind in den ersten Wochen durch die Antikörper ihrer Mütter und durchs Stillen vor einigen Erkrankungen geschützt. Trotzdem kann man versuchen, in den ersten Monaten so wenig Kontakte wie möglich mit frisch infizierten, symptomatischen Kindern und Erwachsenen zu haben. In Familien mit mehreren Geschwistern ist das aber fast ein Ding der Unmöglichkeit. Auf Dauer ist es ausserdem kontraproduktiv, ein Kind von Krankheiten oder anderen Kindern abzuschotten, da sich sein Immunsystem, um später möglichst stark zu sein, mit vielen verschiedenen Erregern auseinandersetzen muss. 

Und wenn Symptome auftreten?

Ist ein Kind erkrankt, sollte man ihm Ruhe gönnen, es gut beobachten, schulmedizinische oder eventuell phytotherapeutische Medikamente gegen die Symptome und wenn nötig gegen das Fieber geben. Damit lindert man die Symptome und hilft dem Kind, etwas besser trinken und schlafen zu können. Wird die Erkrankung oder das Fieber trotz konsequenter und gewichtsangepasster Medikation schlechter, dauert das Fieber länger als drei Tage oder kommen Atemprobleme, auffallende Verhaltensabweichungen, starke Schmerzen oder Apathie dazu, sollte man unbedingt einen Kinderarzt aufsuchen oder santé24 anrufen.

Der Winter geht dem Ende entgegen. Können wir darauf hoffen, dass die Infektionskrankheiten langsam durch sind?

Die RSV- und die Influenzawelle ebben normalerweise gegen das Frühjahr wieder ab. Bei Covid wissen wir noch nicht, wie mehrfache Infektionen und Impfungen Erwachsene und auch Kinder nachhaltig schützen und was mit den verschiedenen Covid-Mutationen weiterhin passiert. Frühling und Sommer sind in der Regel aber bezüglich ansteckender Krankheiten tatsächlich besser als Herbst und Winter. Allerdings sind Kinder in den ersten Lebensjahren im Schnitt bis zu zehnmal pro Jahr erkältet oder erwischen eine ansteckende virale Magen- und Darminfektion.

23.01.2023

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